Hallo liebe L.,
ich versuche mal die Geschichte von Deinem Großonkel Willi (Wilhelm Prull) in einer Kurzfassung aufzuschreiben:
Er ist am 27.12.1910 geboren und gest. am 08.03.1943. Er war der Sohn von Deinem Urgroßvater Heinrich Prull (selbstständiger Tischlermeister in Zetel) und seiner 1. Ehefrau Anna Sophie, geb. Bolling. Seine Schwester hieß Grete (später Nienkirchen, geb. Prull). Die Mutter der beiden Kinder starb am 11.05.1919 im Krankenhaus von Varel an Tuberkulose, da war Wilhelm gerade 8 Jahre alt. Die Kinder wurden vorübergehend bei Verwandten untergebracht und später von einer Haushälterin versorgt.
Es war 1924, als dann Heinrich Prull zum 2. x heiratete. Mit Deiner Urgroßmutter Marie, geb. Hibbeler, bekam er zwei weitere Töchter, Deine Großmutter Hanna und meine Mutter Gerda. Die älteren Kinder waren ca. 13 und 15 Jahre alt und wie ich von meiner Mutter und meiner Cousine gehört hatte, war Marie eine liebevolle Stiefmutter für Willi und Grete.
Willi wohnte dann später als Erwachsener in Travemünde, Kurgarten 89 bei Bootsmann Heinrich Schlichting (vermutlich zur Untermiete) , wo er als Dekorateur und Verkäufer bei dem Kaufmann für Manufakturwaren Wilhelm Friedrichsen, in der Straße „Rose 9“ angestellt war.
Seine Schwester Grete war inzwischen verheiratet, hatte zwei kleine Kinder (W. und I.) und wohnte in Hamburg. I. kann sich erinnern, dass ihre Mutter mal erwähnte, dass Willi die junge Familie einmal in Hamburg besucht hatte, sie aber wohl auch einige Male in Travemünde waren.
Einige der Fotos zeigen Willi bei seinem Besuch in Zetel mit seinen Schwestern und seinem Vater. Wenn man annimmt, dass meine Mutter auf dem Foto ca. 15 Jahre alt war, so könnten diese Aufnahmen durchaus kurz vor seinem Tode gemacht worden sein – vielleicht hat er sogar auf dem Rückweg nach Travemünde noch Hamburg besucht und wurde dort verhaftet. Eine Ansichtskarte aus Hamburg hat er an meine Mutter geschickt, leider kann man kein Datum erkennen. Auch Geburtstagskarten, die er seiner kleinen Schwester schickte, zeugen von der Verbundenheit mit seiner Familie.
Er wurde lt. Akte, 3 Tage vor seinem Tode in seinem Hotel verhaftet, nachdem ihn ein Emanuel Quisthout, geb. 1922 in Brüssel, als homosexuellen Partner denunziert hatte. Nach einer Eintragung im Belgisch staatsblad von 1949, galt dieser als "vermutlich verstorben, zwischen 1944 und 1945 in Deutschland". Das lässt die Vermutung zu, dass auch der damals 21jährige, ein Opfer der Nationalsozialisten wurde und man ihm aus seiner Denunzierung meines Onkels, ein Geständnis für eigene Straffälligkeit entlockte/erpresste.
Die Auszüge aus der Akte meines Onkels hatte ich mir teilweise übersetzt, da einiges in Sütterlin geschrieben ist . Das Stadthaus in Hamburg war damals Sitz der Kriminalpolizei und später der Gestapo.
Ich denke, wenn Willi tatsächlich homosexuell war, was natürlich durchaus der Tatsache entsprechen kann, so wird er aus Zetel, zuerst nach Hamburg, später nach Travemünde verzogen sein, weil es in einer größeren Stadt leichter war einen Partner zu finden – und nicht die Gefahr bestand, dass man „ins Gerede“ kam. Seinen Eltern und Geschwistern hat er sich bestimmt nicht anvertrauen können, da es ja nach § 175 StGB strafbar war und er sonst sich und die Familie gefährdet hätte. Schon alleine das Gerede hätte für seinen Vater, der ja selbstständiger Tischlermeister war, zu der Zeit sicher auch andere Auswirkungen gehabt.
Das Buch „Homosexuellenverfolgung in Hamburg, 1919 – 1969“ enthält nicht nur einen Vermerk über Wilhelm, sondern schildert die schrecklichen Verbrechen an vielen Menschen, die auch mit Kriegsende noch nicht beendet wurden. Da sind viele erschütternde Einzelschicksale erwähnt, die durch die intensive Recherche und endlose Sichtung historischer Unterlagen, ans Licht der Öffentlichkeit gebracht wurden.
Ganz unglaublich schrecklich war, dass viele Männer nach ihrer Verhaftung, Verurteilung und Verbüßung der Strafe nicht freigelassen, sondern zur „Sicherungsverwahrung“ in Konzentrationslager überstellt wurden, wo sie dann, teilweise noch vorher kastriert und dann ermordet wurden. Die wenigen Menschen, die kastriert wurden und überlebten, hatten (falls das überhaupt möglich wäre!), nach dem Kriege keine Wiedergutmachung erfahren, weil der § 175 StGB eben weiter Bestand hatte! Ganz furchtbar finde ich auch, dass viele zitierte Gutachter, Richter und Ärzte, die an diesen menschenverachtenden Urteilen beteiligt waren, auch nach dem Kriege weiterhin arbeiten durften und teilweise für ihre „Verdienste“ noch öffentlich ausgezeichnet wurden!
Ich hatte vorher eigentlich keine Ahnung, dass das Gesetz, das „sexuelle Handlungen“ unter Gleichgeschlechtlichen unter Strafe gestellt hatte, auch nach dem Kriege noch viele Opfer gefordert hatte.
Ich bin, wie Dein Vater, erst 1955 geboren – und mich graut es, wenn ich denke, dass auch zu der Zeit die Menschen (hauptsächlich die homosexuellen Männer), noch so viel Leid ertragen mussten.
Ich bin in den 60ern und 70ern von meinen Eltern in dem Bewusstsein erzogen worden, dass Frauen gleichberechtigt sind und dieselbe Schul- und Ausbildung benötigen, wie die Männer auch, damit sie niemals in eine Abhängigkeit geraten (und das war längst nicht bei allen so, also eine sehr moderne Denkweise) - und, dass ihnen der eigene Körper selbst gehört. Und gerade in dieser Zeit, als Frauen sich emanzipiert haben, gab es so ein Gesetz noch – unfassbar erschreckend und traurig!
Zu der Zeit wurde über Homosexualität immer noch nicht gesprochen. Dass es so etwas überhaupt gibt, bekam man(ich) erst später mit. Da kann man sich ja gut vorstellen, dass die Betroffenen sich auch in dieser modernen Zeit nur in den seltensten Fällen geoutet haben. Den ersten Kontakt zu einem sehr netten schwulen Paar hatte ich ca. 1973, weil der eine ein Kollege meines Mannes war. Du siehst also, dass zu Kriegszeiten garantiert niemand wollte, dass das bekannt würde. Ich bin heute noch der Überzeugung, dass alle Zeitzeugen (insbesondere Eltern und Geschwister von Willi), keine Ahnung von seiner Homosexualität hatten. Vielleicht kam es ihnen merkwürdig von, dass er noch nicht verheiratet war... aber, wenn man in einer anderen Stadt wohnt, kann man sicher auch dafür eine Ausrede erfinden. Andere sind dafür Scheinehen eingegangen und viele trotzdem verhaftet worden.
Leider ist mir nicht bekannt, ob Wilhelm eine große Liebe in seinem Leben gefunden hatte - ich würde es ihm so sehr wünschen!
Hallo liebe L.,
ich versuche mal die Geschichte von Deinem Großonkel Willi (Wilhelm Prull) in einer Kurzfassung aufzuschreiben:
Er ist am 27.12.1910 geboren und gest. am 08.03.1943. Er war der Sohn von Deinem Urgroßvater Heinrich Prull (selbstständiger Tischlermeister in Zetel) und seiner 1. Ehefrau Anna Sophie, geb. Bolling. Seine Schwester hieß Grete (später Nienkirchen, geb. Prull). Die Mutter der beiden Kinder starb am 11.05.1919 im Krankenhaus von Varel an Tuberkulose, da war Wilhelm gerade 8 Jahre alt. Die Kinder wurden vorübergehend bei Verwandten untergebracht und später von einer Haushälterin versorgt.
Es war 1924, als dann Heinrich Prull zum 2. x heiratete. Mit Deiner Urgroßmutter Marie, geb. Hibbeler, bekam er zwei weitere Töchter, Deine Großmutter Hanna und meine Mutter Gerda. Die älteren Kinder waren ca. 13 und 15 Jahre alt und wie ich von meiner Mutter und meiner Cousine gehört hatte, war Marie eine liebevolle Stiefmutter für Willi und Grete.
Willi wohnte dann später als Erwachsener in Travemünde, Kurgarten 89 bei Bootsmann Heinrich Schlichting (vermutlich zur Untermiete) , wo er als Dekorateur und Verkäufer bei dem Kaufmann für Manufakturwaren Wilhelm Friedrichsen, in der Straße „Rose 9“ angestellt war.
Seine Schwester Grete war inzwischen verheiratet, hatte zwei kleine Kinder (W. und I.) und wohnte in Hamburg. I. kann sich erinnern, dass ihre Mutter mal erwähnte, dass Willi die junge Familie einmal in Hamburg besucht hatte, sie aber wohl auch einige Male in Travemünde waren.
Einige der Fotos zeigen Willi bei seinem Besuch in Zetel mit seinen Schwestern und seinem Vater. Wenn man annimmt, dass meine Mutter auf dem Foto ca. 15 Jahre alt war, so könnten diese Aufnahmen durchaus kurz vor seinem Tode gemacht worden sein – vielleicht hat er sogar auf dem Rückweg nach Travemünde noch Hamburg besucht und wurde dort verhaftet. Eine Ansichtskarte aus Hamburg hat er an meine Mutter geschickt, leider kann man kein Datum erkennen. Auch Geburtstagskarten, die er seiner kleinen Schwester schickte, zeugen von der Verbundenheit mit seiner Familie.
Er wurde lt. Akte, 3 Tage vor seinem Tode in seinem Hotel verhaftet, nachdem ihn ein Emanuel Quisthout, geb. 1922 in Brüssel, als homosexuellen Partner denunziert hatte. Nach einer Eintragung im Belgisch staatsblad von 1949, galt dieser als "vermutlich verstorben, zwischen 1944 und 1945 in Deutschland". Das lässt die Vermutung zu, dass auch der damals 21jährige, ein Opfer der Nationalsozialisten wurde und man ihm aus seiner Denunzierung meines Onkels, ein Geständnis für eigene Straffälligkeit entlockte/erpresste.
Die Auszüge aus der Akte meines Onkels hatte ich mir teilweise übersetzt, da einiges in Sütterlin geschrieben ist . Das Stadthaus in Hamburg war damals Sitz der Kriminalpolizei und später der Gestapo.
Ich denke, wenn Willi tatsächlich homosexuell war, was natürlich durchaus der Tatsache entsprechen kann, so wird er aus Zetel, zuerst nach Hamburg, später nach Travemünde verzogen sein, weil es in einer größeren Stadt leichter war einen Partner zu finden – und nicht die Gefahr bestand, dass man „ins Gerede“ kam. Seinen Eltern und Geschwistern hat er sich bestimmt nicht anvertrauen können, da es ja nach § 175 StGB strafbar war und er sonst sich und die Familie gefährdet hätte. Schon alleine das Gerede hätte für seinen Vater, der ja selbstständiger Tischlermeister war, zu der Zeit sicher auch andere Auswirkungen gehabt.
Das Buch „Homosexuellenverfolgung in Hamburg, 1919 – 1969“ enthält nicht nur einen Vermerk über Wilhelm, sondern schildert die schrecklichen Verbrechen an vielen Menschen, die auch mit Kriegsende noch nicht beendet wurden. Da sind viele erschütternde Einzelschicksale erwähnt, die durch die intensive Recherche und endlose Sichtung historischer Unterlagen, ans Licht der Öffentlichkeit gebracht wurden.
Ganz unglaublich schrecklich war, dass viele Männer nach ihrer Verhaftung, Verurteilung und Verbüßung der Strafe nicht freigelassen, sondern zur „Sicherungsverwahrung“ in Konzentrationslager überstellt wurden, wo sie dann, teilweise noch vorher kastriert und dann ermordet wurden. Die wenigen Menschen, die kastriert wurden und überlebten, hatten (falls das überhaupt möglich wäre!), nach dem Kriege keine Wiedergutmachung erfahren, weil der § 175 StGB eben weiter Bestand hatte! Ganz furchtbar finde ich auch, dass viele zitierte Gutachter, Richter und Ärzte, die an diesen menschenverachtenden Urteilen beteiligt waren, auch nach dem Kriege weiterhin arbeiten durften und teilweise für ihre „Verdienste“ noch öffentlich ausgezeichnet wurden!
Ich hatte vorher eigentlich keine Ahnung, dass das Gesetz, das „sexuelle Handlungen“ unter Gleichgeschlechtlichen unter Strafe gestellt hatte, auch nach dem Kriege noch viele Opfer gefordert hatte.
Ich bin, wie Dein Vater, erst 1955 geboren – und mich graut es, wenn ich denke, dass auch zu der Zeit die Menschen (hauptsächlich die homosexuellen Männer), noch so viel Leid ertragen mussten.
Ich bin in den 60ern und 70ern von meinen Eltern in dem Bewusstsein erzogen worden, dass Frauen gleichberechtigt sind und dieselbe Schul- und Ausbildung benötigen, wie die Männer auch, damit sie niemals in eine Abhängigkeit geraten (und das war längst nicht bei allen so, also eine sehr moderne Denkweise) - und, dass ihnen der eigene Körper selbst gehört. Und gerade in dieser Zeit, als Frauen sich emanzipiert haben, gab es so ein Gesetz noch – unfassbar erschreckend und traurig!
Zu der Zeit wurde über Homosexualität immer noch nicht gesprochen. Dass es so etwas überhaupt gibt, bekam man(ich) erst später mit. Da kann man sich ja gut vorstellen, dass die Betroffenen sich auch in dieser modernen Zeit nur in den seltensten Fällen geoutet haben. Den ersten Kontakt zu einem sehr netten schwulen Paar hatte ich ca. 1973, weil der eine ein Kollege meines Mannes war. Du siehst also, dass zu Kriegszeiten garantiert niemand wollte, dass das bekannt würde. Ich bin heute noch der Überzeugung, dass alle Zeitzeugen (insbesondere Eltern und Geschwister von Willi), keine Ahnung von seiner Homosexualität hatten. Vielleicht kam es ihnen merkwürdig von, dass er noch nicht verheiratet war... aber, wenn man in einer anderen Stadt wohnt, kann man sicher auch dafür eine Ausrede erfinden. Andere sind dafür Scheinehen eingegangen und viele trotzdem verhaftet worden.
Leider ist mir nicht bekannt, ob Wilhelm eine große Liebe in seinem Leben gefunden hatte - ich würde es ihm so sehr wünschen!